Wir schreiben das Jahr 2042 – Energie bestimmt die Lebensphilosophie der Bürger. Infolge der Energiewende leben wir in der Netzrepublik Deutschland. Verrückt? Vielleicht.
Im Rahmen des VISIT-Programms beschäftigte sich der Berliner Designer Helge Fischer mit „spekulativen Zukünften“ als Folge der Energiewende und präsentierte seine Visionen in einer Mischung aus Kurzfilmen und Design-Arbeiten im Juli 2013 in einer Ausstellung.
Helge Fischer (*1981) interviewte für sein Projekt Experten zu ihrer Zukunftsvorstellung, externe Fachleute, aber auch Mitarbeiter der innogy aus den Bereichen Forschung und Entwicklung, Strategie oder Innovationsmanagement. Für ihn eine Chance, Hintergrundwissen für sein Projekt zu erhalten, „denn ohne Science kein Science-Fiction“, so Fischer. Während der Ausstellung sammelte Fischer Reaktionen, die in das Projekt eingeflossen und Bestandteil der Gesamtdokumentation geworden sind. #VISIT2012
Website von Helge Fischer
Ins Dickicht der möglichen Zukünfte
Wir haben eine große Gabe: Wir können uns die Zukunft vorstellen. Uns, als Individuen oder als Gemeinschaft, gedanklich In-die-Zukunft-Stellen und uns dort von allen Seiten betrachten. Gefällt uns das, was wir sehen, so fragen wir uns, durch welche Schritte wir diesen Ort zu erreichen vermögen. Gefällt es uns weniger, so fragen wir, auf welche Art wir eine solche Zukunft vermeiden können.
Diese Praxis der gedanklichen Zukunftsbegehung ist bemerkenswert und wahrscheinlich auch bei einer Handvoll anderen Tieren verbreitet, denen dies im verschlungenen Prozess der Evolution zu einem Vorteil gereicht hat. Bei den Menschen jedoch war vor dem Zeitalter der Aufklärung der Begriff der Zukunft noch untrennbar mit dem des Schicksals verknüpft, denn letztlich wurde etwas, nur weil Gott es so will. Noch in den Zeiten von Gottfried Wilhelm Leibniz galt die Vorstellung, dass wir inmitten einer unendlichen Anzahl möglicher Welten permanent in die „beste aller möglichen Welten“ geführt werden: unsere Gegenwart. [1]
An diesem Punkt gab es aber schon eine Ahnung, befeuert durch die zunehmende Bedeutung der Wissenschaft und die Säkularisierung der westlichen Gesellschaften, ein aufkeimendes Bewusstsein, dass die Zukunft möglicherweise dem Menschen obliegt, vor allem in seinen eigenen Belangen wie der Politik oder der Technologie. Durch Philosophen wie Alfred North Whitehead erlangte in der Folge der Begriff der Spekulation neue Bedeutung, die Fähigkeit, „das Denken schöpferisch in die Zukunft wirken zu lassen; […] durch das Erschauen von Ideen, die das Beobachtbare umfassen.“ [2] Eine Vorstellung, die – einmal zu Ende gedacht – wenig von ihrer Radikalität verloren hat: Wir schaffen die Zukunft allererst, indem wir sie denken.
Whitehead legte in seiner Philosophie der Spekulation großen Wert auf eben das, was er „das Beobachtbare“ nannte und was wir heute wohl als Information oder wissenschaftlicher als Daten bezeichnen. Eine Mathematisierung der Welt ist im Gange und der strategische Blick in die Ferne wird zur Möglichkeit für alles; jedoch bleibt die Frage nach dem, was die Beobachtungen sind, anhand derer wir über die Zukunft spekulieren. Sind die Daten in Wahrheit mysteriöser als die Zukunft an sich? Denn vieles ist nur schwer zu mathematisieren, allem voran der Mensch und die kulturellen Haken, die er schlägt, wenn er sich mit anderen Menschen zu Gemeinschaften in all ihrer Komplexität und nicht selten Irrationalität zusammentut. Um hier der Zukunft beizukommen, braucht es Kunstgriffe, die jenseits der Daten liegen.
Ein solcher Kunstgriff ist das Gedankenexperiment des Was-wäre-wenn, verkörpert in der vorliegenden Arbeit von Helge Fischer. Das Gedankenexperiment interessiert sich nur beiläufig für die Daten, sondern erforscht die Zukunft durch eine bewusste Setzung und das Szenario, welches sich daraus entwickelt. Der Stein wird vergleichsweise weit geworfen – ins Jahr 2042 – und die Setzung ist: Was wäre, wenn Energie nicht nur ein Konsumprodukt unter vielen wäre, sondern das identitätsstiftende Element einer Gesellschaft? In der radikalen Folge zerfällt die politische Struktur der Bundesrepublik und wird ersetzt durch die „Netzrepublik“, deren Bürger ihren jeweiligen Lebensort abhängig machen von der persönlichen Entscheidung für Energietechnologie und deren Konsequenzen.
Unrealistisch? Gewiss. Radikal? Bestimmt. Aber doch auch einen Aspekt der deutschen Energiementalität widerspiegelnd, die im internationalen Vergleich von ungewöhnlich starken Überzeugungen geprägt ist. Was hier beschrieben wird, ist eine in sich geschlossene Welt, die unserer zumindest verwandt ist. Die jeweiligen Subszenarien, verkörpert durch die einzelnen fiktiven Regionen und deren Bewohner, werden als narrative Mittel genutzt, um die zugrunde liegenden Haltungen zu erforschen, die, ebenso wie die Netzrepublik an sich, bestimmte Facetten der Gegenwart spiegeln, und ihnen gleichsam in einem Labor Wirkungsraum zu geben. Auf eine Art sehen wir hier also Aspekte von uns in der Zukunft, können uns betrachten und fragen, ob das eine Welt wäre, der wir entgegenschreiten möchten.
Da ist zum Beispiel die Netzrepublik „Exubenergy“, in der Strom zum finanziellen Luxusgegenstand geworden ist. Wofür man zahlt, ist jedoch keine künstliche Segregation, sondern elektrische Energie, die vollständig regional und erneuerbar erzeugt wird. Die Konsequenz ist, dass das wohlbekannte Schuldbewusstsein des Energieverbrauchers verschwunden ist, zumindest unter denen, die es sich leisten können. Denn was wäre, wenn es Elektrizität gäbe, die ohne Schattenseiten gewonnen werden könnte? Der resultierende Überfluss, aus dem sich das Kunstwort Exubenergy speist, wurde schon oft versprochen, nicht zuletzt in der Atomenergie. Was, wenn er einträte, der Fortschritt ohne Verlierer? Doch, natürlich gibt es Schattenseiten, denn der Überfluss mag auf den ersten Blick ethisch neutral sein, jedoch ist er ungleich verteilt. In den unregulierten Zonen der detaillierten Karte der Netzrepublik, die Helge Fischer und Ann-Kristina Simon ausgearbeitet haben, fließt der Strom nur unregelmäßig. Hier treiben Stromdiebe unter großem Risiko das Unwesen ihrer elektrischen Subsistenz, verfolgt von den Drohnen der elektrisch Bessergestellten.
Eine der Republiken, genannt „Energiebruderschaft“, geht einen anderen Weg und wendet sich von der Wirtschaft ab. Vollständig von den Launen der Natur abhängig, deckt sie ihren Energiebedarf direkt aus dem Wind und der Sonne. Dies wird von den Bürgern als „Emanzipation von der Moderne“ gewertet, und Zeiten der Stromlosigkeit werden mit Stolz hingenommen. Dann, jedes Jahr im Herbst, wenn es stürmt, veranstaltet die Republik den sogenannten „Sturmempfang“, bei dem die gewonnene Elektrizität spektakulär verbraucht wird, bis die Infrastruktur der Republik unter der ekstatischen Belastung zusammenbricht. Auch hier wieder das Motiv des Überflusses, der Verschwendung; fast so, als ob die Energie ein Gut wäre, das im Sinne von Georges Bataille [3] verschwendet werden will. Oder vielleicht ist sie ein Gut, das von uns gar nicht wahrhaftig verschwendet werden könnte – wenn wir nur die richtigen technologischen Entscheidungen in Bezug auf sie träfen.
In Fischers vermeintlich fiktivem Szenario spiegelt sich demnach viel von der Komplexität unserer eigentlichen Welt wider. Wir sehen, wie technologische Entwicklungen nicht nur die ökonomischen Umstände zu verändern vermögen, sondern auch potenziell transformative Wirkung auf den Menschen entfalten, während andere Widersprüche wie ein Wohlstandsgefälle erhalten bleiben. Kleine Veränderungen in den Präferenzen und Praktiken erzeugen schlüssige Realitäten innerhalb der Netzrepublik Deutschland. Fast ist es so, als ob man Leibniz’ beste aller möglichen Welten bewusst hinter sich lässt, um sich im Dickicht der möglichen Zukünfte umzuschauen – mit der Absicht, zu verstehen, was die Menschen antreiben könnte, sich für diese oder jene Vision zu entscheiden.
Bleibt die Figur des „Vorhörers“, eines ehemaligen Softwareingenieurs, der über eine Vielfalt von Lautsprechern dem 50-Hertz-Ton des Netzstroms lauscht und anhand von Variationen im Klang diverse Ereignisse im Stromnetz erhört. Ausgehend davon, kombiniert mit seiner Erfahrung und Intuition, sagt er seinem Publikum den Strompreis voraus, was seine Zuhörer wiederum als Entscheidungsgrundlage für ihren Verbrauch nutzen. Hier schließt sich der Kreis, denn die Daten, die der Vorhörer benutzt, entziehen sich jeglicher zahlenmäßigen Erfassung und seine Setzung könnte subjektiver nicht sein. Dennoch – oder gerade deswegen – lassen in dieser Republik sogar die Stromkonzerne seine Vorhersagen in ihre Computermodelle einfließen.
Der Vorhörer erscheint hier fast als Metaszenario, mit dem Fischer die Rolle derjenigen zu beschreiben sucht, welche über die Zukunft arbeiten sowie andere Arten der Spekulation beherrschen und diese – auch jenseits der Zahlen – zu formulieren vermögen. Denn letztlich geht es in einer Welt, in der die Zukunft sich vom schicksalhaften Ereignis zum gestaltbaren Prozess wandelt, um Entscheidungen, nichts anderes.
Sascha Pohflepp (September 2013)
[1] Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee, 2 Bände, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996
[2] Alfred North Whitehead: Die Funktion der Vernunft, Reclam, Stuttgart 1974
[3] Georges Bataille: Das theoretische Werk I: Die Aufhebung der Ökonomie, Rogner & Bernhard, München 1975